Möchtest du einen Kaffee? – Oder: Wir haben immer die Wahl
- katjawelters

- 13. Mai
- 4 Min. Lesezeit

6:30 Uhr. Der Wecker klingelt.
Ein paar Minuten später stehe ich – noch halb im Traum – in der Küche und mache mir einen Kaffee. Wie jeden Morgen. Aber… will ich den eigentlich wirklich?
Diese Frage stelle ich mir ehrlich gesagt nicht jeden Morgen. Warum auch?
Wir treffen täglich unzählige Entscheidungen – von scheinbar banalen wie „Kaffee oder Tee?“ bis zu großen wie „Will ich Kinder?“ oder „Möchte ich mich trennen? “Würden wir bei jeder Wahl eine Pro-und-Contra-Liste führen, bewusst unsere inneren Stimmen befragen und die Langzeitwirkung abschätzen, wären wir spätestens nach dem Frühstück völlig blockiert.
Unser Gehirn weiß das – und schaltet auf Autopilot.
Es nutzt vergangene Erfahrungen, gesellschaftliche Normen und Routinen als Entscheidungshilfe – ein inneres Default-System, das flüstert:
„Du trinkst jeden Morgen Kaffee, also mach ihn dir – ohne großes Tamtam.“
Und bevor ich überhaupt bemerke, dass ich handle, ist der Kaffee in der Tasse und der erste Schluck schon unterwegs in den Magen. Und mein Körper? Der wurde im Entscheidungsprozess kaum berücksichtigt.
Kognitive Entlastung – oder: Warum wir nicht alles hinterfragen
Unser Gehirn liebt genau solche Automatismen. Sie sparen Energie, geben Sicherheit und entlasten uns im täglichen Entscheidungsdschungel. Was „normal“ erscheint, wird selten infrage gestellt – auch, wenn es nicht mehr zu uns passt. Lieber zur bewährten Jeans greifen als zum gelben Faltenrock – ist schließlich „altersgerecht“.
Aber was ist mit Entscheidungen, die wir scheinbar aus Liebe, Pflichtgefühl oder Verantwortung treffen?
Drei kleine Beispiele:
Ich fahre die Kinder zum Fußball.
Nicht immer, weil ich Lust habe, sondern weil es mir wichtig ist, dass sie ihre Interessen verfolgen können. Trotzdem: Auch das ist eine Wahl. Ich treffe sie bewusst – und mit den Konsequenzen, die sie mit sich bringt.
Ich wasche die Wäsche meines Partners.
Nicht, weil es ein Muss ist, sondern weil ich mich entschieden habe, es zu tun. Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aus Fürsorge. Aber auch hier: Es ist eine Wahl – keine Selbstverständlichkeit.
Ich stimme der Grillparty zu.
Nicht, weil ich gerade Lust auf Geselligkeit habe, sondern weil ich gerne Gastgeberin bin – oder weil ich niemanden enttäuschen will. Aber auch diese Entscheidung hat ihren Preis. Und den zahle ich. Bewusst. Oder manchmal eben auch unbewusst.
Ja, klingt hart – aber wir haben theoretisch die Wahl. Die Frage ist also: Möchte ich den Preis zahlen, wenn ich Nein sage?
Entscheidung vs. Konsequenz
Fahre ich die Kinder nicht zum Fußball, könnte mein Umfeld mich verurteilen. Vielleicht ist mein Kind traurig, enttäuscht – fühlt sich nicht gesehen.
Wasche ich die Wäsche meines Partners nicht, könnte es zu Konflikten führen.
Stimme ich der Grillparty nicht zu, entgeht mir möglicherweise der Spaß, aber es kostet mich auch eine Menge Energie. Und ich frage mich: Muss ich immer funktionieren?
Wenn ich all das nicht tue, was wäre dann?
Vielleicht hätte ich Zeit, das Buch zu lesen, das seit Wochen auf dem Nachttisch liegt.
Vielleicht könnte ich mich mit einem bewussten Kaffee auf die Terrasse setzen.
Vielleicht würde ich einen Spaziergang im Wald machen.
Oder – das absolute Highlight – einfach mal nichts.
Sicher ist: Jeden Tag treffen wir Entscheidungen. Und die Konsequenzen – das, was wir zahlen, um diese Entscheidungen zu treffen – haben einen enormen Einfluss. Denn jedes „Ja“ zu anderen kann ein „Nein“ zu uns selbst bedeuten. Und das passiert oft unbewusst.
Keine Strafe für alte Entscheidungen
Es ist leicht, in der Rückschau zu urteilen. Es ist einfach, uns selbst für vergangene Entscheidungen zu bestrafen, wenn wir feststellen, dass sie uns heute vielleicht überfordern oder einschränken. Wir fragen uns: „Warum habe ich das damals so entschieden?“ Oder: „Warum habe ich mich auf diesen Weg eingelassen?“ Doch diese Fragen führen uns nicht weiter.
Denn zum Zeitpunkt, an dem wir diese Entscheidungen getroffen haben, waren sie die besten, die uns zur Verfügung standen. Sie waren Ausdruck unseres damaligen Wissens, unserer Ängste, Hoffnungen und Möglichkeiten. Und sie waren oft mit Liebe, Verantwortung und dem Wunsch, das Richtige zu tun, motiviert.
Die wahre Frage ist also nicht: „Warum habe ich das getan?“, sondern: „Wie möchte ich heute mit den Konsequenzen umgehen?“
Es hat keinen Sinn, uns für alte Entscheidungen zu beschimpfen oder in Schuld zu baden. Denn wir können die Vergangenheit nicht ändern. Was wir jedoch tun können, ist, zu verstehen, dass wir die Kontrolle über die Gegenwart haben. Wir können uns bewusst entscheiden, wie wir heute handeln wollen – und uns die Freiheit nehmen, auch in den kleineren Entscheidungen immer wieder neu zu wählen.
Warum es oft nicht „einfach“ ist, neu zu wählen
Vielleicht denkst du jetzt: Ja schön und gut – aber ich kann nicht einfach anders entscheiden. Und du hast recht: Unsere persönliche Geschichte schreibt mit.
Wenn wir früh gelernt haben, dass Bedürfnisse riskant sind oder Liebe an Bedingungen geknüpft ist, fällt es uns heute oft schwer, frei zu wählen. Nicht aus Schwäche, sondern aus Schutz.
Was wir manchmal als ‚Schwäche‘ empfinden, waren oft wichtige innere Schutzstrategien – sie haben uns damals geholfen, uns sicher zu fühlen. Und sie dürfen gesehen werden – mit Mitgefühl, nicht mit Druck.
Manchmal besteht Selbstbestimmung nicht im „Neuwählen“, sondern im sanften Erkennen, was uns bisher getragen hat.
Und manchmal ist es hilfreich, sich dabei begleiten zu lassen – durch Therapie, Beratung oder andere Formen professioneller Unterstützung.
Und vielleicht liegt darin der erste Schritt: Nicht alles zu verändern. Sondern den Mut zu haben, sich selbst besser zu verstehen.
Auch äußere Umstände spielen eine Rolle: Wer Kinder versorgt, Angehörige pflegt oder mehrere Jobs jongliert, entscheidet nicht immer aus einem Gefühl von Wahlfreiheit heraus. Verantwortung, Fürsorge oder Pflichtgefühle machen die Entscheidungen nicht falsch – aber sie machen sie komplexer.
Vielleicht beginnt Freiheit in den kleinen Dingen
Vielleicht geht es also gar nicht darum, alles umzuwerfen oder Entscheidungen neu zu lernen. Sondern darum, ehrlich hinzusehen:
Was will ich gerade wirklich?
Was ist meine Sorge, wenn ich es nicht tuen würde?
Was kostet mich diese Entscheidung – innerlich?
Vielleicht ist unsere größte Freiheit nicht, alles anders zu machen, sondern zu verstehen, warum wir etwas so machen, wie wir es machen.
Wer weiß – vielleicht reicht schon ein einziger ehrlicher Moment mit uns selbst, um etwas zu verändern.
Etwas Kleines.
Etwas Stilles.
Etwas, das sich wie "ich selbst" anfühlt.
Schlussgedanken
„Ich habe keine Wahl!“ – diesen Satz denken wir öfter, als uns lieb ist. Doch selbst in den schwierigsten Momenten gibt es immer einen kleinen Raum der Wahl. Und auch ein "Ja" aus Pflicht kann ein bewusster Akt der Liebe sein.
Und wenn du dich heute für etwas entscheidest, dann vielleicht mit dem Wissen:
Ich habe mich entschieden. Und ich stehe dazu.



Für mich ist der Artikel super hilfreich für die Organisation meines Alltag und Entwicklung von einem Gefühl der Entscheidungsfreiheit.