Zwischen Erschöpfung und Systemstarre - Warum es manchmal keine „Work-Life-Balance“ geben kann
- katjawelters

- 26. Mai
- 4 Min. Lesezeit

Neulich stieß ich auf eine Aussage beim CDU-Wirtschaftstag im Mai 2025:
„Mit Vier-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können.“
– Friedrich Merz
Ich stockte.
Nicht, weil ich parteipolitisch argumentieren möchte – das ist nicht mein Ziel. Aber diese Worte stehen sinnbildlich für eine Haltung, die viele Menschen spüren:
Die Angst, dass Fürsorge, Balance und Menschlichkeit unserem wirtschaftlichen Fortschritt im Weg stehen könnten.
Doch was ist Fortschritt – wenn immer mehr Menschen dabei auf der Strecke bleiben?
Als psychologische Beraterin sehe ich täglich, wie es Menschen wirklich geht, die in diesem sogenannten Wohlstand leben.
Ich sehe Erschöpfung.
Selbstzweifel.
Überforderung.
Menschen, die längst nicht mehr können – und trotzdem weiter funktionieren.
Und ich sehe ein System, das ihnen kaum Alternativen bietet:
Zu wenige Therapieplätze, monatelange Wartezeiten, kaum niedrigschwellige Hilfe.
Und Beratung – wie ich sie anbiete – wird häufig belächelt oder ist für viele schlicht nicht bezahlbar. Dabei ist sie für manche die einzige Brücke zwischen heute und einem fernen „irgendwann“.
„Ist das nicht Jammern auf hohem Niveau?“
Eine berechtigte Frage – und doch zeigt sie, wie verzerrt unser Blick manchmal ist.
Ja, im globalen Vergleich leben wir privilegiert. Aber psychische Erschöpfung ist kein Luxusproblem.
Sie trifft Menschen mit Job, Partner:in und gefülltem Kühlschrank – und trotzdem innerlich leer.
Was soll Menschen noch motivieren, wenn das, was sie täglich leisten, nie gut genug zu sein scheint?
Wir arbeiten – und brechen dabei innerlich zusammen.
Wir suchen Erfüllung – und verlieren uns im Funktionieren.
Wir sprechen von Effizienz und Leistung – aber kaum über Potenzial und Entwicklung.
„Nicht jeder hat die Wahl, sich selbst zu verwirklichen – manche müssen einfach arbeiten.“
Genau das ist der Punkt.
Wenn Selbstverwirklichung zum Luxus wird, wird psychische Gesundheit zur Klassenfrage.
Psychische Gesundheit ist ein zentrales menschliches Bedürfnis – und in der humanistischen Psychologie nach Carl Rogers sogar Ausdruck eines natürlichen inneren Strebens: dem Wunsch, sich zu entfalten, zu wachsen und als Person stimmig zu leben.
Rogers glaubte an ein grundsätzlich positives Menschenbild – an die Fähigkeit jedes Menschen, sich unter förderlichen Bedingungen in eine konstruktive Richtung zu entwickeln.
Wer dauerhaft nur funktionieren muss, verliert irgendwann den Sinn – und oft auch die Kraft.
Viele meiner Klient:innen erzählen von Arbeitsumfeldern, in denen man sich nicht traut, innovativ zu sein – aus Angst, anzuecken oder nicht dazuzugehören.
Von Organisationen, die Engagement belohnen – solange es sich gut einfügt, aber nicht herausfordert.
Von jungen Menschen, die lieber schweigen, als ihr volles Potenzial zu zeigen.
Das ist auch eine Art „Work-Life-Balance“ – nur unfreiwillig … und oft staatlich subventioniert.
Eine Balance aus Angst, Anpassung und innerem Rückzug.
„Aber du bist doch psychologische Beraterin – warum äußerst du dich zu gesellschaftlichen Themen?“
Weil ich täglich mit Menschen spreche, die unter diesen Strukturen leiden.
Weil ich weiß, dass psychische Gesundheit nicht nur im Privaten entsteht.
Und weil ich überzeugt bin: Wenn wir sie nur individuell behandeln, übersehen wir die systemischen Ursachen.
Ich will niemandem das Recht auf Karriere absprechen.
Im Gegenteil – ich glaube an Entwicklung.
An das menschliche Bedürfnis, zu wachsen – wenn Raum dafür da ist.
Und wenn dieser Raum fehlt, lohnt sich ein zweiter Blick:
Was hält Menschen zurück?
Was würde sie wirklich stärken?
Vielleicht fehlt es uns nicht an Wohlstand.
Vielleicht fehlt uns der Mut, unser Bewertungssystem zu hinterfragen.
Vielleicht fehlt uns die Kraft – weil wir zu lange gegeneinander gearbeitet haben und zu selten füreinander.
„Machst du Institutionen oder Arbeitgebern damit Vorwürfe?“
Nein. Ich mache Beobachtungen. Und stelle Fragen.
Ich glaube, viele Führungskräfte leiden selbst unter dem Druck, dem sie ausgesetzt sind.
Deshalb brauchen wir mehr Offenheit – nicht Schuldzuweisungen.
Mehr Dialog – nicht Polarisierung.
Was genau hinter diesem kollektiven Leistungsdruck für jeden Einzelnen steckt, ist für mich die eigentlich spannende Frage.
Doch ob und wie weit sich jemand auf die Suche nach dieser Antwort begibt, bleibt jedem selbst überlassen.
Vielleicht sollten wir Wohlstand neu denken.
Nicht nur als wirtschaftliche Leistungsfähigkeit – sondern als die Fähigkeit eines Systems, Menschen wirklich zu entlasten.
Andere Länder zeigen, dass das möglich ist.
In Skandinavien wird soziale Arbeit nicht nur wertgeschätzt, sondern fair bezahlt.
Dort entstehen Rahmenbedingungen, in denen Menschen ihre Arbeit mit Würde tun können – und nicht am System zerbrechen.
In Portugal läuft Steuererklärung digital, bürgernah, fast automatisch.
Ein Beispiel dafür, wie Bürokratie entlasten kann – statt zusätzlich zu belasten.
Solche Beispiele zeigen:
Wir könnten anders – wenn wir wollten.
Wenn Effizienz an den richtigen Stellen, so wie auch Menschlichkeit zum Maßstab würden.
Warum also nicht öfter von diesen positiven Nachbarn lernen?
Denn vielleicht könnten wir dann die technische Entwicklung nutzen – und Work-Life-Balance zur neuen Normalität machen.
Und zuletzt:
Wenn wir ernsthaft von Wohlstand sprechen – und Work-Life-Balance mehr als ein Schlagwort sein soll – dann müssen wir auch jene Berufe stärken, die Menschen in psychischen Belastungssituationen auffangen.
Warum geben wir Menschen in alternativen psychologischen Berufen nicht mehr Chancen?
Warum gibt es kaum Praktikumsplätze oder staatliche Anerkennung für nicht-approbierte Berater:innen?
Warum übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung nicht zumindest anteilig die Kosten für begleitende Unterstützung – bis ein Psychotherapieplatz frei wird?
Eine staatlich anerkannte Prüfung, die diesen Berufsfeldern Glaubwürdigkeit verleiht, wäre ein wichtiger Schritt.
Denn wir, die wir diesen Beruf ernst nehmen, schrecken vor der nötigen Mühe nicht zurück.
Und vielleicht würden sich dann auch jene, die dem Ruf dieser Angebote schaden, tiefer mit der Frage beschäftigen:
Warum habe ich mich für diesen Weg entschieden – und was will ich wirklich beitragen?
Ja, wir leben in einer Art Wohlstand – aber nicht für alle.
Und jene, die die Macht hätten, Strukturen zu verändern, scheinen oft am wenigsten bereit, sie zu hinterfragen.
Vielleicht ist es Zeit, dass wir beginnen, ein neues Verständnis von Wohlstand zu entwickeln:
Eines, das nicht nur materiell misst – sondern menschlich.
Eines, das fragt:
Wie geht es uns wirklich?
Und was brauchen wir, damit wir – als Gesellschaft – gesund bleiben können?



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