top of page

Zwischen Raum und Rückzug

 

ree

Nicht jede Stille ist ein Abschied. Nicht jeder Rückzug bedeutet Desinteresse. Manche Menschen bleiben – auch wenn sie leiser werden.


Es gibt Phasen im Leben, in denen wir uns innerlich unruhig fühlen. Gereizt, überfordert, zweifelnd. Vielleicht teilen wir das einem Menschen mit, dem wir uns nahe fühlen. Jemandem, dem wir vertrauen. Und dann reagiert er oder sie – nicht mit Distanz, nicht mit Ignoranz, sondern mit etwas, das für viele ganz natürlich und mitfühlend ist: Er oder sie gibt Raum. Bleibt präsent, aber zurückhaltend. Fragt, wie es uns geht, ohne zu drängen.

Und doch: Für manche Menschen fühlt sich das nicht nach Nähe an, sondern nach Rückzug.

Nicht nach Mitgefühl, sondern nach Verunsicherung.


Was rational sinnvoll erscheint – ein verständnisvoller, offener Umgang mit emotionalem Raum – trifft auf etwas in uns, das ganz anders geprägt ist. Wenn wir früh gelernt haben, dass unsere Gefühle zu viel sind oder nicht gehalten werden, kann jedes kleine Innehalten durch andere wie eine alte Wunde schmerzen. Dann wird Stille schnell zur vermeintlichen Bedrohung, und ein freundlicher Abstand fühlt sich an wie der Beginn eines Verlusts.


In solchen Momenten ist es schwer, das eigene Bedürfnis klar zu spüren. Was wir fühlen, ist Irritation oder Überforderung. Was wir brauchen, ist unklar. Wir geraten in den Modus des inneren Scannens: Hat sich der Ton verändert? War die Nachricht kürzer als sonst? Ist das ein Zeichen für Desinteresse? Alte Erfahrungen legen sich über die aktuelle Realität und flüstern: „Du bist wieder allein.“


Doch vielleicht ist das nicht die Wahrheit. Vielleicht ist da gar kein Rückzug. Vielleicht ist da jemand, der leise bleibt, um uns nicht zu übergehen. Jemand, der nicht interpretiert, nicht retten will, sondern Vertrauen hat – dass wir unseren Weg gerade selbst finden. Das Problem ist nur: Wenn uns dieser Umgang nicht vertraut ist, fällt es schwer, ihn als Zuwendung zu erkennen. Was gut gemeint ist, wird zur Projektionsfläche für unsere Unsicherheit.


Und doch kann gerade in diesem Raum etwas Wichtiges geschehen. Wenn wir den Impuls zur Überreaktion nicht sofort ausleben, sondern innehalten, öffnet sich ein Zugang. Vielleicht merken wir dann, dass unser Unwohlsein nicht im Verhalten des anderen lag, sondern in dem, was unausgesprochen darunter lag: ein Bedürfnis. Vielleicht nach Entwicklung, nach emotionaler Nähe, nach einem nächsten Schritt im Kontakt. Und vielleicht war genau dieses Bedürfnis der Ursprung unseres Unwohlseins – und es war einfach noch nicht sichtbar.


Wenn wir das erkennen und beginnen Worte dafür zu finden, verändert sich etwas. Nicht, weil der andere sich plötzlich anders verhält, sondern weil wir unsere eigene Klarheit finden. Und mit dieser Klarheit kann auch die Beziehung wieder fließen.


Manche Menschen bleiben – auch wenn sie leiser werden. Nicht, weil sie sich abwenden, sondern weil sie Raum geben. Sie versuchen nicht, uns zu reparieren. Sie versuchen, uns zu vertrauen. Und vielleicht liegt gerade darin eine Form von Beziehung, die uns langsam lehrt, dass es keine Katastrophe ist, wenn wir mal nicht stark sind. Dass Bedürfnisse kein Makel sind. Und dass es möglich ist, gehört zu werden – auch dann, wenn wir selbst erst noch lernen müssen, was wir eigentlich sagen wollen.

 
 
 

Kommentare

Mit 0 von 5 Sternen bewertet.
Noch keine Ratings

Rating hinzufügen
bottom of page