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Der Mörder ist immer der Gärtner – oder: Wer ist eigentlich schuld?



Mein Mann ist schuld. Die Politik ist schuld. Das Wetter ist schuld.

Wer kennt das nicht? Fast unbemerkt sind solche Sätze Teil unseres Alltags geworden.

Die Kolleg*in kommt zu spät zur Arbeit:

„Sorry, das Wetter ist schuld – ich musste 15 Minuten Schnee schaufeln.“


Die Busverbindung wurde gestrichen, und nun ist die Tochter zu spät in der Schule:

„Die Politik ist schuld – wer kürzt auch den öffentlichen Nahverkehr in einer Pendlerregion?“


Der Toast brennt an:

„Mein Mann ist schuld – er kann seine Krawatte mal wieder nicht alleine finden.“


Da wäre es doch zumindest unterhaltsamer, wenn wir uns einfach darauf einigen könnten, dass immer der Gärtner schuld ist?(Kurze Notiz an alle Gärtner*innen da draußen: Ich entschuldige mich aufrichtig. Selbstverständlich seid ihr hier nur Platzhalter – ein Ehrenplatz übrigens – für das berühmte Krimi-Klischee.)


So oder so ähnlich läuft es oft. Wir lieben klare Schuldige – und gar nicht so selten suchen wir sie sogar dort, wo sie gar nicht sind.

Aber warum ist uns das eigentlich so wichtig? Warum suchen wir jemanden, den wir verantwortlich machen können – für Missgeschicke, Misserfolge oder miese Laune?

Und vielleicht noch wichtiger: Was ist Schuld überhaupt?


Der Duden sagt: [Schuld ist die] „Ursache von etwas Unangenehmem, Bösem oder eines Unglücks, das Verantwortlichsein, die Verantwortung dafür.“

Aha! Also Verantwortung! Klingt für mich doch schon ganz anders.

Plötzlich bekommt es so etwas Aktives – ich möchte sagen: etwas Erwachsenes.

Die Verantwortung übernimmt jemand – Schuld hat oder gibt man. Sie klingt nach Anklage. Verantwortung eher nach Gestaltungsraum.


Wenn wir also sagen: „Ich bin schuld“, meinen wir oft: „Ich bin verantwortlich“ – und doch verpasst man sich (oder anderen) damit oft einen moralischen Strafzettel.

Kein Wunder also, dass wir gern jemand anderen in die Pflicht nehmen. Den Gärtner zum Beispiel.


Aber wie würden die Sätze vom Anfang dieses Artikels eigentlich klingen, wenn wir statt Schuld einfach Verantwortung übernehmen würden?


Die Kolleg*in kommt zu spät zur Arbeit:

„Sorry, ich bin verantwortlich. Es hat geschneit und ich habe mich mit der Zeit verschätzt.“


Die Busverbindung wurde gestrichen, und nun ist die Tochter zu spät in der Schule:

„Ich bin verantwortlich, mich rechtzeitig über Änderungen im Fahrplan zu informieren – auch wenn ich mit den politischen Entscheidungen nicht einverstanden bin.“


Der Toast brennt an:

„Ich bin verantwortlich, wenn ich versuche, gleichzeitig mein Frühstück zu managen und jemandem bei der Krawattensuche zu helfen.“


Der Unterschied ist subtil – und doch gewaltig.

Es klingt nicht nur ehrlicher, sondern auch kraftvoller. Verantwortung zu übernehmen heißt nicht, sich selbst kleinzumachen. Im Gegenteil: Es bedeutet, die Dinge wieder in die Hand zu nehmen.


Doch Verantwortung kann anstrengend sein – oder besser: Sie ist es auch.

Vielleicht passt hier ein kleiner Hauch Existenzialismus und Verantwortungsethik.


Fast schon wie ein intellektueller Fluch hat Jean-Paul Sartre das auf seine ganz eigene, französisch-existenzialistische Weise formuliert:

Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“ – Aber was bedeutet das?


Wir sind frei zu entscheiden. Immer.

Auch wenn wir glauben, es „ginge nicht anders“, haben wir eine Wahl. Und mit dieser Freiheit kommt: Verantwortung.

Verantwortung nicht nur für das, was wir tun – sondern auch für das, was wir lassen.


Ob das nun bedeutet, den Toaster rechtzeitig runterzuregulieren, Busfahrpläne zu lesen oder einfach nur die Zeit falsch einzuschätzen – es ist unsere Entscheidung.

Doch auch Verantwortung für die Unterstützung eines Menschen in Not.

Den Abend vor dem Fernseher zu verbringen.

Alkohol zu trinken.

Einen Job anzunehmen.

Zu heiraten – oder eben nicht.

Verantwortung für den eigenen Handlungsspielraum.


Und vielleicht geht es gar nicht immer nur um Ausreden oder Bequemlichkeit.

Vielleicht ist Schuldzuweisung manchmal auch ein stiller Selbstschutz.

Denn wer Verantwortung übernimmt, riskiert, sich selbst näherzukommen. Und dabei treffen wir nicht selten auf alte Bekannte:

Zweifel. Angst. Scham.


Das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Oder versagt zu haben. Nicht, weil wir es tatsächlich haben – sondern weil irgendwo in uns diese Stimme sitzt, die so etwas flüstert, wenn etwas schiefläuft.

Kein Wunder also, dass wir lieber das Wetter oder die Politik bemühen.

Die sind neutraler. Die tun nicht weh.


Das Schöne an Verantwortung ist aber auch: Wir müssen nichts.

(Wirklich nicht. Für die musikalische Untermalung empfehle ich den Song „Du musst gar nix“ von Die Sterne.)


Und um noch einen Moment philosophisch zu bleiben, passt auch Nietzsche hier ganz wunderbar:

Der Mensch erträgt nicht die Wahrheit. Und noch weniger erträgt er, dass sie womöglich mit ihm selbst zu tun hat.


Mit anderen Worten: Schuld zu projizieren ist bequem.

Verantwortung zu tragen – wie wir gesehen haben – ist unbequem … aber auch ehrlicher. Und vielleicht sogar befreiend.


Eins ist sicher: Leicht ist das Ganze nicht immer.

Denn wir können Schuld auch noch anders betrachten. Schuld – und auch Scham – sind oft Wunden.

Wunden, die Einfluss darauf haben, wie wir mit Situationen umgehen.


Und nicht selten handeln wir ganz automatisch – ohne Bewusstsein dafür, was wir gerade tun oder was wir eigentlich anders machen könnten.


Im Eifer des täglichen Gefechts geht es manchmal eben sehr schnell, und der Raum für die tieferliegenden Dynamiken ist nicht gegeben –oder vielleicht, kann ich sagen: Wir nehmen ihn uns nicht.


Denn ist nicht auch das – nach allem, was ich hier geschrieben habe – unsere Verantwortung?


Doch vielleicht können wir anfangen, hinzuhören – uns den Raum zu geben.

Uns selbst zuhören, wenn wir über Schuld reden.

Und wenn wir das nächste Mal sagen – oder denken –„Der ist schuld“ …

… vielleicht halten wir dann einen Moment inne und fragen uns:


„Wo liegt meine Verantwortung?“

 

 
 
 

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