Die Scham der Bedürftigkeit
- katjawelters
- 6. Apr.
- 3 Min. Lesezeit

Heute Morgen habe ich einen kleinen Ausschnitt aus einem Buch, das ich gerade lese, in meinen Status gestellt. Der Titel lautet: „Familienkrankheit Alkoholismus“, und ich möchte die Textstelle hier noch einmal aufnehmen, denn es kamen unerwartet viele Reaktionen auf dieses Zitat.
„Die Scham darüber, sich so bedürftig zu erleben, so voll Sehnsucht nach Gehalten- und Verstandensein, sollte weder ausgenützt noch belächelt werden. Jeder sollte einfach die Person sein dürfen, die er schon immer war.“
(Lambrou, Ursula. 2011. Familienkrankheit Alkoholismus [überarbeitete und erweiterte Neuausgabe]. Rowohlt Digitalbuch. Rowohlt Verlag.)
Auch jetzt, beim Schreiben, berühren mich diese Worte sehr. Ich verspüre ein großes Bedürfnis, dieses Buch weiterzuempfehlen. Zum einen, weil viele Menschen tatsächlich in Familiensystemen aufgewachsen sind, in denen eine Alkoholabhängigkeitserkrankung ein Thema ist. Zum anderen, weil ich auf diesen kleinen Textausschnitt so viele Rückmeldungen bekommen habe, dass ich kurz dachte:
„Ist das für alle ein bisschen so?“
Es liegt mir fern, zu pauschalisieren. Dieser Text ist sicher auch entstanden, weil mir – sowohl persönlich als auch beruflich – das Thema Selbstfürsorge und Selbstliebe immer wieder begegnet. Und so habe ich mich gefragt:
Ist vielleicht auch unsere Gesellschaft – mit ihrer ständigen Aufforderung nach Optimierung: schneller, besser, höher, weiter, immer mehr – so sehr mit Funktionieren beschäftigt, dass wir einander kaum noch wirklich Halt geben? Dass wir einander nicht mehr verstehen? Und was vermitteln wir dann unseren Kindern?
Wir scheinen keine Zeit mehr zu haben, uns wirklich zuzuwenden. Und vielleicht noch besorgniserregender:
Wir lernen nicht mehr, wie wir uns selbst in schwierigen Momenten Halt und Verständnis geben können.
Denn: Für die eigene Person gut genug zu sein – reicht heute scheinbar nicht mehr aus.
Und so sehr wir auch üben dürfen, uns selbst zu regulieren, uns zu halten, zu verstehen – an manchen Tagen ist es einfach verdammt schwer!Und ich lehne mich mal aus dem Fenster: für alle.
Was aber tun, wenn gerade niemand da ist, der uns diesen Halt gibt? Vielleicht, weil auch die Menschen in unserer Umgebung überfordert sind? Nun ja – dann beginnt wohl ein weiterer Lernprozess. Einer, der nicht minder herausfordernd ist: Akzeptanz.
Die Akzeptanz, dass wir uns manchmal allein fühlen. Dass das Bedürfnis nach Nähe, nach Verstandenwerden, nach Gehaltensein gerade nicht erfüllt wird.
Dass es Tage gibt, an denen wir das aushalten müssen – nicht, weil wir stark sein sollen, sondern weil es gerade niemanden gibt, der uns diesen Raum halten kann.
Und vielleicht ist genau in diesem Aushalten...
in diesem inneren Mitgefühl für uns selbst...
ein kleiner, zarter Anfang von Selbstliebe.
Aber was tun, wenn gerade nichts hilft – oder sich nichts danach anfühlt?
Oft sind wir in schweren Momenten nicht nur traurig oder überfordert –wir machen uns zusätzlich auch noch selbst dafür fertig, dass wir traurig oder überfordert sind.
Wenn wir anfangen, uns selbst wie einen guten Freund zu behandeln – mit Verständnis, Trost und ohne Druck – wird das Aushalten nicht unbedingt leichter, aber wärmer.
Wenn also ein Mensch, der uns wichtig ist, vor uns säße und uns sein momentanes Gefühl von Schmerz anvertrauen würde – was würden wir ihm antworten? Vielleicht so etwas wie:
„Es ist okay, dass du dich gerade so fühlst. Du musst dich nicht erklären.“
„Ich bin da. Ich geh nicht weg.“
„Ich sehe dich. Und ich verurteile dich nicht.“
„Du bist nicht falsch. Du bist gerade einfach nur sehr menschlich.“
Vielleicht fällt es uns schwer, uns selbst mit dieser liebevollen Stimme zu begegnen –und doch ist es irgendwie so wohltuend, genau diese Worte von dem wichtigsten Menschen in unserem Leben - uns selbst - zu hören.
In dunklen Momenten kann es auch helfen, etwas zum Festhalten zu haben. Also etwas Körperliches.
Für die einen ist es vielleicht die Lieblingsdecke oder etwas in der Hand, für die anderen ist es eine Kerze, ein Tee oder ein tröstender Satz, den man sich aufschreibt.
Sicherlich ist das noch keine Lösung – aber es gibt uns das Gefühl, uns zu verankern, da zu sein, im Hier und Jetzt, und sich selbst etwas Gutes zu tun.
Und dann? Ja, dann gibt es Freunde, Familie – und natürlich auch professionelle Hilfe.
Und Begleiter, die uns helfen, Selbstfürsorge, Akzeptanz und Selbstliebe immer häufiger in unser Leben zu integrieren.
In der Zwischenzeit haben wir unseren emotionalen Erste-Hilfe-Kasten – und die Gewissheit, dass kein Gefühl für immer bleibt! Auch wenn es sich in manchen Momenten genau so anfühlt.
Sich in solchen Zeiten an die schönen Dinge zu erinnern, an wertschätzende Momente und daran, dass auch andere Menschen, ähnliche Phasen durchleben, kann Trost spenden.
Und falls du dich gerade darin wiederfindest – vielleicht tut es im ersten Moment weh, so ehrlich zu spüren, wie sehr dir (und wahrscheinlich jedem Menschen) manchmal Nähe oder Halt fehlt. Aber vielleicht ist genau darin auch der Anfang von Verbindung – mit dir selbst und mit dem Wissen: Du bist damit nicht allein.
Komentáře